Die Haare im Waschbecken

Körpersprachliche Waffen der »zivilisierten« Erwachsenen

Im letzten Kapitel haben wir Erwachsenen die Nase gerümpft über die primitiven Formen der Konfliktaustragung von Jungen wie Kevin oder Hassan. Für manche von uns ist es schwer vorstellbar, daß diese Restbestände an fossiler Männlichkeit nach wie vor so weit verbreitet sind. Wenn wir jedoch mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf eine andere Person zeigen, weisen drei Finger der Hand auf uns selbst zurück, so sagt ein Sprichwort. Das heißt: Auch wir Erwachsenen, die wir für uns in Anspruch nehmen, in Konflikten auf die Kraft der Argumente statt auf die Kraft des Körpers zu setzen, agieren durchaus körperbetont. Bei so manchem Streit um die Haare im Bad entscheidet sich der Ausgang der Auseinandersetzung nicht etwa dadurch, daß eine der Konfliktparteien die besseren Argumente auf ihrer Seite hat, sondern daß sie eine dominante oder gar verletzende Körpersprache benutzt.

Im Klartext: So manchen Streit entscheiden wir zu unseren Gunsten, indem wir laut werden, uns aufrichten, uns breit machen, die Hände in die Hüfte stemmen, mit der Faust auf den Tisch hauen, mit dem ausgestreckten Zeigefinger drohen, verächtliche Blicke werfen, den Kontrahenten mit zwischenzeitlicher Nichtbeachtung strafen, zynische Untertöne benutzen oder mit mimischem Minimalismus agieren. Und wenn wir uns unser nonverbales Waffenarsenal näher anschauen, dann können wir – ähnlich wie bei Kevin und Hassan – zwei grundlegende Prinzipien erkennen:

Durch die Verwendung von Drohgebärden wie lauter Stimme, breitem Kreuz, Körpergröße, drohendem Blick etc. wollen wir dem Kontrahenten die eigenen Kraft und Entschlossenheit vor Augen führen. Die heimliche Botschaft der Drohgebärden lautet: »Ich bin stark. Leg dich besser nicht mit mir an. Ich könnte dich sonst ernsthaft verletzen.«

Zusätzlich soll der Kontrahent durch gezielte körpersprachliche Stiche verletzt werden: Eindringen in sein Territorium mittels stechender Blicke oder ausladender Gestik, zynische Untertöne, Nichtbeachtung etc. Die heimliche Botschaft der körpersprachlichen Verletzungen lautet: »Ich kann dich mühelos verletzen. Ergib dich frühzeitig, sonst werde ich meine Angriffe intensivieren.«

Jede der hier beschriebenen körpersprachlichen Verhaltensweisen verfolgt das gleiche Ziel:

Der Kontrahent soll durch den Einsatz nonverbaler Waffen so stark psychisch destabiliert werden, daß er Probleme bekommt, einen festen Standpunkt zu vertreten, und seine Interessen zu unseren Gunsten aufgibt.

Wir werden im folgenden einen kritischen Blick in unsere Waffenkammer werfen. Dabei werden Sie entdecken, daß Sie all diese Waffen bereits aus eigener Erfahrung und vermutlich auch Anwendung kennen.


»Glotz nicht so blöd!«

Jeder von uns wird sich an Situationen erinnern können, in denen ihn die verletzenden Blicke anderer Menschen getroffen haben. Und wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben, daß aggressives Blickverhalten auch zu unserem eigenen Instrumentarium körpersprachlicher Drohgebärden und Verletzungen in Konfliktsituationen gehört. Drohende Blicke sind fester Bestandteil unseres Waffenarsenals – wir verwenden sie immer dann, wenn es gilt, eigene Meinungen und Standpunkte gegen diejenigen eines Kontrahenten durchzusetzen.

Mit scharfen und aggressiven Blicken versuchen wir, unser Gegenüber in die Enge zu treiben und zu verunsichern.

Blicke können »treffen«, »verletzen« und »töten«. Stellvertretend für die Vielzahl drohender und bohrender Blicke möchten wir ein Beispiel schildern, das die meisten von uns – in beiden Rollen – am eigenen Leib erlebt haben:

Eine Mutter wirft einen scharfen Blick in Richtung ihres Kindes, weil dieses mit dem Essen spielt. Die heimliche Botschaft des stechenden Blicks lautet: »Deine Spielerei mit dem Essen gefällt mir nicht. An meinem drohenden Blick erkennst du nicht nur, daß ich dein Verhalten beobachte und mißbillige, sondern auch, daß ich die Kraft und Entschlossenheit aufbringe, gegen dieses Verhalten vorzugehen, falls du es nicht sofort einstellst. Verhalte dich so, wie ich es von dir möchte, sonst werde ich weitere Maßnahmen ergreifen!« Die Mutter benutzt den drohenden Blick, um das Kind einzuschüchtern, damit dieses mit der Spielerei aufhört.

Doch neben der Verängstigung des Kindes erfüllt der drohende Blick eine weitere Funktion: Das unliebsame Verhalten des Kindes stellt in den Augen der Mutter die bestehende Hierarchie in Frage – denn schließlich bestimmt sie darüber, was das Kind tun oder auch nicht tun darf. Der drohende Blick dient also auch der Zurückgewinnung der Macht. Die Mutter kämpft um ihre Autorität. Beugt sich das Kind dem mütterlichen Druck, indem es das mißbilligte Verhalten einstellt, ist die Hierarchie erneuert. Der Kampf ist – bis zum nächsten Konflikt – entschieden.

Wir alle reagieren sehr sensibel, wenn wir mit bohrenden Blicken von Mitmenschen konfrontiert sind. Aggressive Blicke erzeugen Druck und Angst, streben eine Hierarchisierung von Beziehung an und polarisieren einen Konflikt. Wird das Drohstarren von beiden Konfliktparteien praktiziert, ist die Eskalation vorprogrammiert, denn beide Kontrahenten kämpfen um die Überlegenheit. Die drohenden und bohrenden Blicke fungieren sowohl als Mittel der Darstellung eigener Stärke als auch als Mittel der Entkräftung des Kontrahenten, der sie als Herausforderung und Infragestellung seiner Position interpretiert. Anthropologen konnten denn auch nachweisen, daß sich in allen Kulturen dieser Erde Menschen eines bohrenden Blickverhaltens bedienen, um in Konflikten ihre Kontrahenten zu bedrohen, abzuschrecken und zu bezwingen.

Drohstarren ist ein universelles Prinzip aggressiven und dominanten Verhaltens, das wir sogar mit vielen Tierarten teilen.

Auch wir Erwachsenen arbeiten also regelmäßig mit dem drohenden Blick, wenn es gilt, den Druck auf den Kommunikationspartner zu erhöhen und diesen in die Schranken zu verweisen:

Die Ehefrau wirft einen strafenden Blick in Richtung Ihres Mannes, weil dieser wieder einmal eine blöde Bemerkung über ihr Aussehen macht. Ihr drohender Blick soll weitere dämliche Kommentare des Mannes unterbinden. Ohne ein Wort von sich zu geben, sagt die Frau mit ihrem Blick zu ihrem Mann: »Hör auf mit deinen Sprüchen, sonst werde ich die Kraft, die du an meinem Blick ablesen kannst, gegen dich richten!«

Ein Passant schaut drohend in Richtung eines Bettlers, der um einen Euro bettelt. Der Blick soll diesen vor weiteren Bettelversuchen abschrecken. In einem heftigen Streit um die angemessene Erziehung der Tochter flankiert der Mann sein lautstark vorgetragenes Argument mit einem bösen Blick in Richtung seiner Frau. Damit will er sie davon abhalten, daß sie Gegenargumente vorträgt, statt seine »harte Linie« in der Erziehung zu übernehmen. Eine Verkäuferin schaut einen Kunden scharf an, als der versucht, eine Packung aufzureißen. Sie sagt mit Hilfe ihres Blicks: »Legen Sie besser die Packung ungeöffnet zurück ins Regal, sonst …«

Eine Lehrerin schaut einen Schüler strafend an, weil er sich wieder einmal mit seinem Nachbarn unterhält, statt dem Unterricht zu folgen. Ihr Blick sagt: »Hör auf zu sprechen, sonst gibt es Sanktionen.«

Ein drohender Blick verweist auf die eigene Entschlossenheit und sagt: »Tu das, was ich von dir möchte, sonst …«

Ein drohender Blick droht indirekt härtere Maßnahmen an und will den Kontrahenten aus Angst davor zur kampflosen Kapitulation bewegen.

Verstehen Sie uns bitte nicht falsch: Wir möchten nicht den Eindruck erwecken, als sei die Verwendung des drohenden Blicks generell negativ oder verwerflich. Es gibt viele Situationen, in denen der Einsatz eines drohenden Blicks durchaus sinnvoll sein kann. Wir möchten lediglich zeigen, daß auch wir Erwachsenen in so mancher Konfliktsituation auf visuelle Waffen zurückgreifen, um in eine dominante Position zu gelangen und einen Streit zu unseren Gunsten zu entscheiden. Wir verlassen uns also keineswegs auf die Stichhaltigkeit unserer Argumente, sondern bringen oft zusätzlich unseren Körper als Abschreckung ins Spiel. Unsere Vorgehensweisen in Konflikten ist nicht körperlos.


Ins Zeug werfen

Was machen wir, wenn wir in einem Konflikt unser Gegenüber mit unserer Körperkraft beeindrucken wollen? Wir betreiben körpersprachliche Expansion, indem wir uns ins Zeug werfen:

Um dem Kontrahenten mit unserer Kraft und Stärke zu imponieren, blähen wir im Konfliktfall unseren Oberkörper auf und »machen uns breit«. Die heimliche Botschaft lautet: »An meinen breiten Schultern und meinem aufgeblähten Oberkörper erkennst du meine Muskelkraft. Ich bin dir – nicht nur körperlich – überlegen.«

Um die optische Wirkung der breiten Brust und der dadurch symbolisierten Muskelkraft zu vergrößern, stemmen wir die Hände oder Fäuste in die Hüften und stellen die Ober- und Unterarme weit aus.

Mit ausladender Gestik unterstützen und bekräftigen wir unsere Argumente, die unseren Kontrahenten »plätten« sollen. Mit der geballten Faust betonen und akzentuieren wir unsere Kraft.

Wir stellen uns breitbeinig hin, um einen sicheren Stand zu bekommen. Wir wollen unsere Stellungnahme möglichst so abgeben, daß der Kontrahent »kein Bein mehr auf den Boden bekommt«. Denn schließlich hat der eigene Standpunkt »Hand und Fuß«.

Selbstverständlich besetzen wir auch den Rederaum in dem Konflikt, so daß der Kontrahent nicht zu Wort kommt: »Wir reden ihn an die Wand« und machen ihn »mundtot«.

Körpersprachliche Expansion soll auf die eigene (Muskel-)Kraft und Stärke verweisen und den Kontrahenten im Konfliktfall zur kampflosen Kapitulation bewegen: »An meinem breit ausgestellten Körper erkennst du meine Muskeln. Leg dich besser nicht mit mir an, sonst werde ich meine Muskeln im Kampf gegen dich einsetzen. Kapituliere kampflos und tu das, was ich von dir möchte.«

Körpersprachliche Expansion soll Angst vor einem indirekt angedrohten Übergriff erzeugen und den Kontrahenten zur Aufgabe bewegen.

Wenn von Drohgebärden mittels aufgeblasener Oberkörper und raumgreifender Gestik die Rede ist, haben Sie vermutlich junge Männer wie Kevin oder Hassan vor Augen, die mit ihrem Imponiergehabe versuchen, Angst und Schrecken zu verbreiten. Und doch müssen wir feststellen, daß es sich bei der Abschreckung durch Expansion um ein universelles Prinzip handelt, das nicht nur in allen Kulturen anzutreffen ist, sondern auf das Menschen jeden Alters, aller sozialen Schichten und beiderlei Geschlechts in Konflikten zurückgreifen. Das heißt: Nicht nur Männer, sondern auch Frauen bedrohen ihre weiblichen oder männlichen Kontrahenten mit dem Mittel der körpersprachlichen Expansion, indem sie indirekt mit ihren Muskeln drohen.

Sie sind skeptisch? Was machen Mütter, wenn ihre Kleinen etwas ausgefressen haben und sie diese zur Rede stellen? Sie bauen sich breitbeinig vor ihnen auf und stemmen die Hände in die Hüften. Um die abschreckende Wirkung ihrer Strafpredigt zu potenzieren, bedienen sie sich einer ausladenden Gestik und drohen mit dem ausgestreckten Zeigefinger. Auf dieses Mittel der körperlichen Drohung greifen selbst Mütter zurück, die ihr Kind niemals schlagen würden.

Mütter, die Drohgebärden verwenden, drohen ihren Kindern – in der Regel ohne sich dessen bewußt zu sein – eine körperliche Züchtigung an.

Das Mittel der Aufblähung wird – egal ob im Kindergarten, in der Schule, in der Familie oder im Betrieb – überall dort angewendet, wo sich ein Kontrahent seinem jeweiligen Konfliktgegner soweit überlegen fühlt, daß er sicher ist, von diesem nicht verletzt werden zu können. Diese Überlegenheit kann körperlicher oder auch formal-institutioneller Art sein:

Eine Lehrerin wirft sich vor einem kleinen Schüler der 5. Klasse ins Zeug, um diesen im Konfliktfall körperlich einzuschüchtern. Aber sie vermeidet diese Drohgebärde in einem Streit mit einem großen männlichen Schüler der 10. Klasse, der als cholerisch gilt.
Ein Vorgesetzter pustet sich vor seinem Angestellten auf und brüllt ihn an, weil er sich sicher sein kann, daß dieser sich auf Grund seiner niedrigeren Stellung und der dadurch bedingten Abhängigkeit nicht wehren wird. Aber er hütet sich davor, gegenüber seinem Personalchef ausfallendes Konfliktverhalten zu praktizieren.

Ausschlaggebend dafür, ob in einem Konflikt Drohgebärden verwendet werden, ist nicht die absolute Kraft einer Person, sondern deren relative körperliche oder formale Überlegenheit gegenüber dem Kontrahenten.


Zu nahe treten

Bei der Auseinandersetzung zwischen Kevin und Hassan haben wir festgestellt, daß sich die beiden Kontrahenten während ihres symbolischen Kampfes immer näher kommen und sich ihre Nasenspitzen schließlich fast berühren. Sie betreiben, so haben wir gesagt, wechselseitige Invasion.
Und was macht eine Mutter, wenn sie ihr Kind, das etwas ausgefressen hat, »zur Rede stellen« möchte? Sie tritt relativ dicht heran, um die Wirkung ihrer strafenden Worte durch das Unterschreiten von Distanzen zu potenzieren. Sie tritt dem Kind zu nahe.

Das Eindringen in den Schutzraum des Gegenübers in einem Konflikt soll diesen verängstigen. Tatsächlich zeigt diese Waffe der Invasion erstaunliche Wirkungen – der Kontrahent reagiert körperlich: Die Muskelspannung nimmt zu, der Puls erhöht sich, die Atmung wird flacher (ihm »stockt der Atem«), der Verdauungsvorgang wird eingeschränkt, Hormone werden ausgeschüttet usw. Der Körper bereitet sich auf Angriff oder Flucht vor. Invasives Verhalten verursacht demnach physiologische – und damit auch psychologische – Reaktionen: Mit invasivem Territorialverhalten läßt sich im Konflikt eine dominante Position erringen.

Körpersprachliche Invasion dient der psychsichen und physischen Destabilisierung des Gegenübers.

Eine Variante dieser Grenzverletzungen durch Eindringen in die intime Zone eines Kontrahenten stellt die aggressive Gestik dar: Dabei dringt die invasive Person nicht mit ihrem gesamten Körper in das Territorium des Konfliktgegners ein, sondern fuchtelt mit dem ausgestreckten Zeigefinger oder gar der geballten Faust dicht vor dessen Nase herum. Auch durchdringende, bohrende Blicke fungieren als invasive Grenzverletzung. Sprechen wir nicht von Rederaum? Auch das Ins-Wort-Fallen stellt einen Akt von invasivem Verhalten dar. Wer dem Kontrahenten das Wort abschneidet, indem er ihn ständig unterbricht, unternimmt Grenzverletzungen.

Invasion ist ein universelles Mittel der symbolischen Verletzung des Kontrahenten, das auch von uns Erwachsenen immer wieder verwendet wird.

Die heimliche Botschaft invasiver Körperstrategien lautet: »Die Verletzungen, die ich dir durch meine unerschrockenen Invasionen zufügen kann, sind nur die symbolischen Vorboten der Verletzungen, die ich dir zufüge, wenn du nicht das tust, was ich von dir möchte. Ich werde dich körperlich attackieren.« Die hier vorgestellten Formen invasiven Verhaltens sind demnach versteckte Androhungen von körperlichen Übergriffen.

Für körpersprachlich invasives Verhalten gibt es Entsprechungen auf der verbalen Ebene der Kommunikation: Auf den Satz: »Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber …« folgt in der Regel ein Vorwurf, eine massive Kritik oder gar eine Beleidigung. Verbale Invasionen dienen – ähnlich wie körpersprachlich- invasive Handlungen – der psychischen Destabilisierung des Kontrahenten. Ein verbaler Angriff soll diesen aus dem Gleichgewicht bringen und somit dazu beitragen, daß der eigene Standpunkt auf dessen Kosten durchgesetzt wird. Denn intuitiv wissen wir: Eine psychisch destabilisierte Person hat Probleme, ihren festen Standpunkt zu halten. Sie »fällt um« und »verliert an Boden« in dem Konflikt.

Wir setzen verbale und nonverbale Waffen der Invasion immer dann ein, wenn es gilt, durch Druck eigene Konfliktinteressen auf Kosten des Kontrahenten durchzusetzen.


»Ich guck auf dich herab!«

Kevin und Hassan richten sich während ihres Konflikts zu stattlicher Größe auf. Beide wollen sich gegenseitig mit ihrer Größe beeindrucken und abschrecken. So archaisch ihre Aufrichtung auch wirken mag, so weitverbreitet ist das Mittel der Einschüchterung durch Größe auch bei uns »zivilisierten« Erwachsenen: Beobachten Sie einmal in einem Kindergarten, wie eine Erzieherin mit ihrer Körpergröße agiert, wenn sie ein Kind, das etwas ausgefressen hat, zur Rede stellt: Sie tritt nicht nur sehr dicht an das Kind heran, sondern behandelt es von oben herab und bestimmt zusätzlich dessen Blickwinkel: Je näher das Kind herangewinkt wird, desto steiler muß es nach oben schauen und desto angsteinflößender wirkt die körperliche Größe der Erzieherin. Auf diese Weise führt sie dem Kind dessen eigene Unterlegenheit vor Augen.

Je größer wir uns im Konfliktfall machen, desto bedrohlicher wirken wir auf unseren Kontrahenten und desto aussichtsloser soll diesem ein Kampf erscheinen.

In all unseren Konflikten, in denen es darum geht, die andere Person zu überzeugen, zu überreden, zu übertrumpfen, zu überragen oder zu überfahren, kämpfen wir intuitiv auch mit unserer Körpergröße. Körperliche Größe erhöht die einschüchternde und verletzende Wirkung von Drohgebärden und Machtworten und kann zu Vorteilen im Konflikt führen.

Doch warum flößt uns die überlegene Größe eines Kontrahenten in einem Konflikt häufig Angst ein und bereitet uns Schwierigkeiten, unseren Standpunkt sicher und selbstbewußt zu vertreten? Warum assoziieren wir Körpergröße mit Dominanz? Die Antwort ist ganz einfach: Jeder von uns hat viele, viele Jahre am eigenen Leib erlebt, welchen positiven oder negativen Einfluß große Menschen auf uns gehabt haben – unsere Eltern haben uns beschützt und gestraft.

In unseren prägenden Lebensjahren haben wir unsere mächtigen Beschützer und Bestrafer stets als übergroß erlebt.

Warum sollten wir dieses Prinzip von Größe = Dominanz als Erwachsene aufgeben, nur weil wir selbst es zu stattlicher Größe gebracht haben? Diese Gleichung haben wir mit der Muttermich aufgesogen. Zeit unseres Lebens assoziieren wir Größe mit Dominanz. Kein Wunder also, daß wir auch als Erwachsene in unseren Konflikten auf diese Körperwaffe der Aufrichtung zurückgreifen, um unsere jeweiligen Kontrahenten einzuschüchtern.


Laut-stark und klein-laut

Hassan und Kevin machen sich in ihrem Streit nicht nur größer, sondern sie heben auch ihre Stimme und brüllen sich wechselseitig an. Ihre lauten und tiefen Stimmen erfüllen also die gleiche Funktion wie ihre Selbstaufrichtung: Drohen und Abschrecken.

Die Stimme als Drohgebärde einzusetzen ist ein uraltes und universelles Muster der Konfliktbewältigung. Die Schreie der Brüllaffen dienen ebenso wie das Quaken der Ochsenfrösche im Konfliktfall der Abschreckung von Gegnern. Rotwild röhrt um die Wette. Sieger eines Rangordnungskampfes zwischen röhrenden Hirschen ist nicht etwa der Kontrahent, der seinen Rivalen auf die Hörner nimmt, sondern das Männchen, das am lautesten und längsten röhren kann. Viele der Rangordnungskämpfe im Tierreich werden nicht mit Muskeln, Hörnern, Krallen oder Zähnen ausgetragen, sondern mit Stimmen. Dadurch wird das Verletzungsrisiko der beteiligten Tiere minimiert.

Das lauteste Tier stellt symbolisch unter Beweis, daß es stärker ist und den Rivalen auf die Hörner nehmen kann. Denn je größer der Resonanzraum eines Körpers, desto tiefere und lautere Töne vermag dieser zu erzeugen. Auch ein tief und laut brüllender Mensch ist mit einer großen Wahrscheinlichkeit nicht nur männlich, groß und breitschultrig, sondern darüber hinaus relativ stark. Die heimliche Botschaft an den jeweiligen Konfliktpartner lautet: »An meiner lauten Stimme erkennst du meine Körpergröße und Kraft. Diese Kraft werde ich, wenn du dich nicht unterwirfst, gegen dich richten und dich damit verletzen. Hör daher auf deine Angst und unterwirf dich kampflos!« Nicht umsonst sprechen wir von Lautstärke.

Eine tiefe und laute Stimme fungiert in einem Konflikt als Hinweis auf die Größe und Breite der sprechenden oder schreienden Person: Höre meine Kraft!


Kraft der Worte – Kraft des Körpers

Wir können fast sicher sein: Immer wenn wir uns verbal größer machen und unseren Standpunkt kraftvoll vertreten wollen, heben wir unsere Stimme und werfen wir uns parallel dazu ins Zeug, um den Konfliktpartner einzuschüchtern. Und immer wenn wir verbal ausfallend und verletzend werden, benutzen wir Körpersignale des Bedrängens und Verletzens. Allzu groß scheint unser Vertrauen in die Kraft unserer Argumente also nicht zu sein – sonst würden wir sie nicht derart häufig mit körpersprachlichen Waffen flankieren.

Wenn die Argumente zu schwach sind, werden sie mit dominanter Körpersprache gestärkt.

Doch über zwei Punkte sollten wir uns im klaren sein:

Wer mittels Drohgebärden die eigene Stärke zur Schau stellen möchte, ist innerlich nicht etwa groß, sondern klein. Hinter der Lautstärke versteckt sich eine kleinlaute Person. Wann werden wir laut in einem Konflikt? Wenn uns die Argumente ausgehen! Wann richten wir uns auf? Wenn wir uns einer Person oder Situation nicht gewachsen fühlen! Wann werfen wir uns ins Zeug? Wenn wir uns zu schwach fühlen, um in einem Konflikt gegen den Kontrahenten zu bestehen. Die Inszenierung von Stärke verrät unsere Schwäche. Die Verwendung von Drohgebärden offenbart die eigene Angst, die auf den Konfliktgegner abgewälzt werden soll. Der Volksmund sagt dazu ganz lapidar: »Wer angibt, hat´s nötig«, und: »Wer schreit, hat unrecht.«

Immer dann, wenn wir in einem Streit eine der hier beschriebenen Waffen verwenden, verlassen wir die Ebene einer konstruktiven Konfliktbewältigung. Wir bringen den Körper als Drohmittel ins Spiel und versuchen darüber, den Kontrahenten einzuschüchtern. Dabei ist es unerheblich, ob wir diese Waffen bewußt oder unbewußt einsetzen und ob wir unser Gegenüber auch wirklich körperlich attackieren würden: Eine laute Stimme, eine aggressive Gestik oder die Aufrichtung verweisen symbolisch auf die eigene Kraft und spielen mit der Angst des Konfliktpartners vor einem körperlichen Übergriff. Sobald wir den Körper als Waffe einsetzen, begeben wir uns auf die gleiche Ebene wie Kevin oder Hassan. Das bedeutet: Eine Konfliktbewältigung, die den Konfliktpartner durch den Einsatz von druckvollen Waffen zu etwas bewegen will, ist destruktiv. Dessen Entscheidung, gemäß unseren Interessen zu handeln, wird nicht freiwillig und selbstverantwortlich getroffen, sondern erzwungen.

Fassen wir diese beiden Punkte zusammen:

Mit der Verwendung einer aggressiven Körpersprache offenbaren wir unsere Schwäche und verlassen die Ebene der konstruktiven Konfliktbewältigung.

Februar 2007
202 Seiten, kort.
€ [D] 14,90,
Format 17 x 24 cm,
Oesch Verlag, Zürich
Rudi Rhode, Mona Sabine Meis (Autoren)