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ca. 144 Seiten, kort.
€ [D] 17,95
Cornelsen: Scriptor, Berlin
Rudi Rhode, Mona Sabine Meis (Autoren)
Klaus Martin Metzger (Hrsg.)
2014
Leseprobe:
III. Deeskalation
Persönliche Autorität statt Konsequenz
In den meisten Grundschulen wird angesichts zunehmender Grenzverletzungen und Regelverstöße der Ruf nach wirksamen Konsequenzen immer lauter. Wir haben nichts gegen wirksame Konsequenzen, möchten aber aufzeigen, dass diese niemals die Lehrerautorität ersetzen können. Der Schwerpunkt des eigenen Lehrerverhaltens nach Regelverstößen sollte diesseits der Konsequenz-Ebene liegen. Die Konsequenz ist das letzte Mittel der Wahl – nicht das erste.
Die Fragestellung für die kommenden Abschnitte lautet
also: Wie können Lehrerinnen und Lehrer nach Regelverstößen
agieren, damit die Konsequenz-Ebene so selten wie möglich
betreten werden muss.
Diese Schwerpunktsetzung erfolgt aus vier Gründen:
1. Wer allzu eilfertig in Konflikten
nach Regelverstößen auf die Konsequenz-Ebene wechselt,
verspielt die eigene persönliche Autorität. Die
inflationäre Verhängung von Konsequenzen ist ein
pädagogischer Offenbarungs-Eid.
2. Der Übergang auf die Konsequenz-Ebene kostet in der Regel Zeit, Energie und Kraft der betroffenen Lehrerinnen und Lehrer: Die geeignete Konsequenz muss sorgfältig nach Kosten-Nutzen- und nach pädagogischen Kriterien ausgewählt werden. Häufig müssen für die Auswahl und Abstimmung einer geeigneten Konsequenz andere Instanzen (z.B. Schulleitung, Klassenlehrer, Abteilungsleitung, Eltern) hinzugezogen werden. Und letztlich muss auch die Umsetzung der Konsequenz seitens der Schülerinnen und Schüler betreut, zumindest aber kontrolliert werden.
3. Der Lehrerauftritt nach Regelverstößen ist eine Ressource, die unmittelbar mit der Persönlichkeit des Lehrers (= persönliche Autorität) zu tun hat. Sie ist die Summe der Fertigkeiten, Fähigkeiten und inneren Haltungen einer Lehrkraft, über die sie in einem Konflikt direkt und ohne äußere Mittel verfügen kann. Die Konsequenz dagegen ist die Anwendung von äußeren Druckmitteln, die außerhalb der Person des Lehrers oder der Lehrerin liegen.
4. Der Rückgriff auf die Konsequenzen (= äußerer Druck) kommt einer Verschärfung eines Konflikts gleich und birgt die Gefahr der Gefährdung der Beziehungsebene zwischen Schüler und Lehrer.
Aus diesen genannten Gründen werden wir den Lehrerauftritt nach Regelverstößen diesseits der Konsequenz-Ebene in den Focus unserer Betrachtung rücken. Wir möchten Ihnen in den nächsten Kapiteln Hilfestellungen und Kriterien an die Hand geben, wie Sie nach Regelverstößen und Grenzverletzungen konsequent und wertschätzend zugleich auftreten können. Denn jeder diesseits der Konsequenz-Ebene bewältigte Konflikt nach einem Regelverstoß oder einer Grenzverletzung spart Zeit und Kraft, festigt die persönliche Autorität und wahrt die Beziehungs-Ebene.
Der Lehrerauftritt nach Regelverstößen und Grenzverletzungen muss frei sein von verbalen und nonverbalen Angriffen und die beiden Pole der Durchsetzungsfähigkeit und Wertschätzung miteinander verbinden, damit Schülerinnen und Schüler nicht in unangemessene und völlig überzogene Konsequenzen hineingetrieben werden.
Definition des Begriffs
Diese Definition ist zugegebenermaßen etwas sperrig und bedarf einiger Erläuterungen:
1. Zunächst einmal ist deutlich, dass es sich nicht um eine allgemeingültige Definition von Deeskalation handelt, die auf sämtliche beruflichen oder privaten Konflikte angewendet werden kann. Wir beziehen sie ausdrücklich auf einen pädagogischen Kontext, in dem es um Regelverstöße oder Grenzverletzungen seitens der Kinder und Jugendlichen geht. Sie können das Wort „Lehrerauftritt“ aber auch ersetzen durch Elternauftritt, Sozialpädagogenauftritt etc..
2. Durch die Formulierung Auftritt möchten wir darauf hinweisen, dass wir uns nicht auf die Analyse der verbalen Äußerungen beschränken, sondern auch die Betrachtung der nonverbalen Botschaften einbeziehen werden. Unter Auftritt verstehen wir die Gesamtheit unserer expliziten wie impliziten Botschaften.
3. Für einen deeskalativen Auftritt gibt es keine Erfolgsgarantie. Sind Schülerinnen und Schüler „auf Krawall gebürstet“, dann können trotz Deeskalations-Strategie seitens der Pädagogen Konflikte zumindest einseitig eskalieren. Diese Einschränkung soll durch das Wort „erleichtert“ zum Ausdruck gebracht werden.
4. Der Begriff „das erwartete Verhalten“ verweist auf die innere Haltung der Lehrerinnen und Lehrer, auf deren Grundlage sie ihren Auftritt gestalten. Eine Erwartung basiert, im Gegensatz zu einer Bitte, auf einer Vorgesetztenposition. Wer mit der inneren Haltung einer Erwartung in einen Konflikt mit einer regelverletzenden Person hineingeht, ist sich seiner Vorgesetztenposition bewusst, kommuniziert hierarchisch und behält sich vor, bei fortgesetzter Nicht-Beachtung der Regel seitens der Schülerinnen oder Schüler auf die Konsequenz-Ebene zu wechseln.
Und genau hierin unterscheidet sich die Bitte von einer Erwartung: Die Wesensmerkmale einer Bitte sind die prinzipielle Partnerschaftlichkeit der Akteure und die prinzipielle Freiwilligkeit der Umsetzung einer Bitte. Auf eine Bitte dürfen im Falle der Nicht-Befolgung keine Konsequenzen irgendwelcher Art folgen. Sonst war es keine Bitte, sondern eine verkappte Erwartung – nämlich eine höflich formulierte Erwartung. Diese Differenzierung soll aber auf gar keinen Fall implizieren, dass man als Lehrerin oder Lehrer nach Regelverstößen das Wort „Bitte“ nicht verwenden sollte. Wir unterscheiden auch im Folgenden strikt zwischen innerer Haltung und Formulierung (siehe unten).
In einem deeskalativen Auftritt müssen demnach zwei Pole
miteinander verbunden werden:
Durchsetzungsfähigkeit: Das unmittelbare Ziel
der Lehrerintervention muss es sein, dass die
regelverletzenden Schülerinnen und Schüler sich wieder
regelkonform verhalten.
Wertschätzung: Darüber hinaus muss
gewährleistet sein, dass diese mit ihrem regelkonformen
Verhalten nicht auch ihr Gesicht verlieren.
Hinzu kommt noch eine weitere Erfordernis:
Ein deeskalativer Auftritt darf nicht allzu lange dauern. Denn Regelverstöße und Grenzverletzungen finden meistens in einem Kontext statt, in dem die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer unter Zeitdruck stehen: Unterricht oder Pausensituationen.
1. Präventive Deeskalation
Ein Bücken ist ein Bücken ist ein Bücken…
Wichtig zu erwähnen:
- Tobias wollte die Trinkflasche ordnungsgemäß entsorgen, trifft aber aus Versehen daneben.
- Anschließend geht er weiter, weil er es „uncool“ findet, sich nach einer leeren Packung zu bücken. Außerdem stört ihn der Müll neben dem Papierkorb auch nicht sonderlich.
- Erst nach dem misslungenen Wurf sieht er seine entgegenkommende Fachlehrerin. Ihm ist also klar, dass Frau Müller seinen Fehlwurf gesehen haben muss.
- Das Verhältnis zwischen Tobias und Frau Müller ist okay: Es gibt keine grundsätzlichen Störungen
- Es sind keine weiteren Schülerinnen und Schüler auf dem Flur anwesend.
- Tobias ist kein einfacher Schüler. Schon seit seiner Grundschulzeit gilt er als aggressiv, streitsüchtig und verhaltensauffällig. Um seinen Selbstwert ist es nicht zum Besten bestellt, was dazu führt, dass er sich immer gerne zum „King“ der Klasse machen möchte. Auf Kritik oder Zurechtweisungen reagiert er bisweilen sehr scharf und aggressiv. Schnell hat er das Gefühl, dass seine Mitschüler oder auch Lehrerinnen und Lehrer es auf ihn abgesehen haben könnten: „Immer ich!“ Viele Verhaltensweisen anderer Menschen interpretiert er daher als gegen sich gerichtet.
Das bedeutet für unser Beispiel: Eine ungeschickt gewählte Formulierung seitens der Lehrerin, ein zu lang gehaltener Blick, ein unangemessener Tonfall in der Stimme – und schon kann der Konflikt kippen und der Konflikt eskalieren, weil Tobias glaubt, sich nicht mehr ohne Gesichtsverlust bücken zu können: „Ich war das doch gar nicht. Sie haben mir gar nichts zu sagen. Die anderen schmeißen auch immer was hin und müssen es nicht aufheben...“
Sie sehen, wir haben die Latte für die Lehrerin hoch gehängt. Sie steht angesichts des explosiven Potenzials von Tobias vor einer großen Schwierigkeit: Die Trinkpackung muss in den Papierkorb, ohne dass dieser das Gefühl entwickeln könnte, das dafür notwendige Bücken sei ein Gesichtsverlust, eine Erniedrigung, eine Beschämung oder eine Unterwerfung. Und gleichzeitig gibt es für die Lehrerin keinerlei Garantie, dass die Deeskalation auch tatsächlich funktioniert. Sie kann lediglich ihren Teil der Verantwortung übernehmen, der darin besteht ihren Auftritt so zu gestalten, dass die Verknüpfung „Bücken = Erniedrigung“ in Tobias Kopf möglichst nicht entsteht
Der Begriff Präventive Deeskalations-Techniken verdeutlicht, was mit Hilfe dieser Techniken verfolgt werden soll: Es geht um die Vermeidung/Prävention von Konflikten. Denn zunächst einmal handelt es sich bei dem Fehlwurf von Tobias noch nicht um einen Konflikt, sondern lediglich um einen leichten Regelverstoß. Der Konflikt entsteht also weder durch den Fehlwurf des Schülers, noch durch die erste deeskalative Ansprache seitens der Lehrerin. Ein Konflikt würde erst durch das anschließende „Nö, mach ich nicht!“ von Tobias entstehen. Und genau diesen Konflikt gilt es durch die Anwendung von präventiven Deeskalations-Techniken zu verhindern.
Die Chancen, dass die Prävention gelingen und ein „Nö, mach ich nicht!“ erfolgreich vermieden werden kann, sind immer dann geben, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind:
- 1. Der Auftritt der Lehrperson genügt
allen Kriterien von Deeskalation (siehe unten).
2. Die betroffenen Schülerinnen und Schüler sind in der Situation des Regelverstoßes nicht „auf Krawall gebürstet“. Und genau das setzen wir – zunächst – in diesem Fall auch voraus: Tobias trifft unabsichtlich daneben und möchte aktuell auch keinen Ärger haben.
Wir werden in den nächsten Abschnitten an Hand dieses einfachen Beispiels eines leichten Regelverstoßes zunächst die Vielzahl der präventiven Deeskalations-Techniken vorstellen und sie zum Zweck der Übersichtlichkeit in fünf Kategorien unterteilen:
- Beziehungsebene gestalten
- Aufwertung der Person praktizieren
- Gegnerschaft vermeiden
- Grad der Öffentlichkeit reduzieren
- Führungsstatus absenken
1.1. Beziehungsebene gestalten
Nähe herstellen
Die Lehrerin spricht Tobias nach dessen Fehlwurf
freundlich an:
„Hallo Tobias, grüß dich. Heb´ doch bitte kurz deine
Trinkpackung auf, okay?“ In dieser kurzen Ansprache hat
die Lehrerin gleich mehrere präventive
Deeskalations-Techniken verwendet, die auf der
Beziehungsebene angesiedelt sind: Sie beginnt mit der
Namensnennung des Schülers und grüßt ihn anschließend.
Dadurch stellt sie direkt einen persönlichen und
verbindlichen Kontakt zu Tobias her. Und auch mit ihrem
freund-lichen Ton in der Stimme und ihrem freundlichen
Gesichtsausdruck macht sie eine wichtige Beziehungsaussage:
Ich behandle dich hier als meinen Freund, und nicht als
meinen Feind.
Namensnennung, Gruß und Freundlichkeit erscheinen so banal, dass sie von vielen Lehrerinnen und Lehrern in unseren Konflikt-Trainings gar nicht als Deeskalations-Techniken angesehen werden. Und doch sind sie elementare Mittel einer deeskalativen Vorgehensweise.
Ein weiteres Mittel, um die Beziehungsebene zu gestalten und eine emotionale Nähe zum Schüler aufzubauen, ist die beiläufige Berührung während der freundlichen Ansprache.
Wir möchten Ihnen noch eine weitere Deeskalations-Technik
vorstellen:
„Hallo Tobias, grüß dich. Sag mal, ihr hattet doch am
Wochenende euer Fußballspiel um den Aufstieg. Habt ihr
gewonnen oder verloren?“
„2:1 verloren.“
„Schade. Aber nächstes Jahr kriegt ihr den Aufstieg bestimmt
hin. Ich drücke euch die Daumen. Ach übrigens, hebst du
bitte noch eben deine Trinkpackung auf? Danke.“
Nennen wir dieses Mittel einfach mal die „Umweg – Technik“. Sie kann bei Kindern zum Einsatz kommen, die schnell explodieren und eine ausgeprägte Tendenz haben, Verhaltensweisen anderer Menschen als gegen sich gerichtet zu empfinden. Statt also die Kinder oder direkt und ohne Umschweife auf den Regelverstoß anzusprechen, wird ein Umweg über ein Feld gegangen, auf dem sich zu den betreffenden Personen relativ schnell und leicht eine Beziehungsebene aufbauen lässt. Ist auf diesem Feld die Nähe erst einmal aufgebaut, wechselt man beiläufig auf die brisantere Ebene – die Ebene des Regelverstoßes.
Wir möchten aber betonen, dass die praktizierte Wertschätzung nicht aufgesetzt sein darf, sondern auf einem ehrlichen Interesse an der Person und Situation des Schülers beruhen muss. Nur dann wird er auf das Deeskalations-Angebot eingehen können, ohne es als falsch und hinterhältig zurückzuweisen.
Nähe deeskaliert
Fassen wir kurz die Mittel zusammen, über die die Beziehungsebene gestaltet wird, und die es erleichtern, zu der regelverletzenden Person eine emotionale Nähe aufzubauen:
- Begrüßung
- Freundlichkeit
- Namensnennung / persönliche Ansprache
- Beiläufige Berührungen
- Umweg-Technik
Erleichtert wird das Herstellen von Nähe natürlich dann,
wenn die jeweiligen Lehrerinnen und Lehrer die
regelverletzenden Personen persönlich kennen. Aber auch zu
unbekannten Schülerinnen und Schüler lässt sich schnell eine
Nähe aufbauen:
„Hallo, ich bin Frau Schulze. Und wie heißt du?“
„Tobias, warum“
„Ich wollte dich nur bitten, deine Trinkpackung eben
wegzuräumen. Danke.“
Abschließend möchten wir noch erläutern, warum die Gestaltung der Beziehungsebene, also das Herstellen von emotionaler Nähe, eine der fünf Säulen der Deeskalation von Konflikten darstellt. Schauen wir uns als Kontrast an, wie die Beziehungsebene aussieht, wenn Konflikte eskalieren und Formen eines Kampfes annehmen: In einem Kampf begegnen sich Feinde, zwischen denen eine große emotionale Distanz besteht. Der Gegner wird gesehen als Idiot, Macker, Schurke, Macho, Fanatiker, Rassist usw. Die emotionale Distanz zum Kontrahenten in Auseinander-Setzungen (!) soll uns schützen vor Mitleid, Schuldgefühlen und vor Beiß- bzw. Tötungshemmung.
Je näher sich Personen emotional stehen, desto ausgeprägter ist die wechselseitige Beißhemmung - emotionale Nähe deeskaliert.