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ca. 160 Seiten, kort.
€ [D] 19,95
Cornelsen: Scriptor, Berlin
Rudi Rhode, Mona Sabine Meis (Autoren)
2014
Leseprobe:
III. Konfrontation
Wertschätzende Grenzziehung
Auch wenn, wie wir oben dargelegt haben, der
inflationäre Gebrauch von gelben und roten Karten einem
pädagogischen Offenbarungseid gleichkommt und zur
Erosion von Autorität beiträgt, so wollen wir natürlich
nicht verhehlen, dass es in bestimmten Konflikten
notwendig ist, auf Deeskalation zu verzichten und
stattdessen grenzverletzende Schülerinnen und Schüler
mit ihrem Vergehen zu konfrontieren oder sogar direkt
auf die Ebene der Konsequenz zu wechseln. Daher werden
wir in diesem Kapitel Kriterien dafür entwickeln, wann
eine Konfrontation sinnvoll sein kann und wie sie
wirksam durchgeführt wird.
Aber die Wirksamkeit einer Konfrontation kann und darf nicht das alleinige Kriterium einer gelungenen Konfrontation sein. Die Akzeptanz einer Grenze und die Befolgung einer Regel seitens der jeweiligen Schülerinnen und Schüler nach mittleren und schweren Vergehen ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass eine konfrontative Lehrerintervention erfolgreich war. Eine zweite Bedingung ist, wie auch schon bei der Deeskalation, die Wertschätzung den regelverletzenden Schülerinnen und Schülern gegenüber. Die Messlatte für eine gelungene und pädagogisch angemessene Konfrontation ist demnach wieder einmal sehr hoch gelegt:
Bei aller Klarheit der Grenzziehung darf eine Intervention niemals übergriffig sein. Stets muss der Lehrerauftritt so gestaltet werden, dass die Schülerinnen und Schüler ihr Gesicht wahren können und durch die Konfrontation nicht erniedrigt und entwertet werden.
1. Fallstricke
Explosionen und Implosionen
Bevor wir die wichtigsten Prinzipien einer
wertschätzenden Konfrontation anhand von konkreten und
praxisnahen Fallbeispielen entwickeln werden, möchten wir
die schwerwiegendsten Fallstricke herausarbeiten, über die
wir immer wieder stolpern, wenn es gilt, Schülerinnen und
Schülern nach mittleren oder gar schweren Regelverstößen
konfrontativ Einhalt zu gebieten:
·
Statt den wiederholt leichten
Regelverstößen innerhalb einer Stunde ab einem bestimmten
Punkt eine klare Grenze zu setzen, tappen Lehrerinnen und Lehrer häufig in
die Falle der sich immer wiederholenden und dadurch an Wert
und Überzeugungskraft verlierenden deeskalativen
Ermahnungen.
·
Ein weiterer Stolperstein auf
dem Weg zur wertschätzenden Konfrontation ist die
innere Kapitulation
von Lehrkräften gegenüber Schülerinnen und Schülern, die
massiv übergriffiges Verhalten äußern: Die jeweiligen
Lehrerinnen und Lehrer
implodieren
innerlich und ihre Grenzsetzungen wirken zaghaft – aus
„Stopps“ werden „Stöppchen“.
·
Bei vielen Konfrontationen,
die tagtäglich auf unseren Schulhöfen und in unseren
Klassenzimmern durchgeführt werden,
explodieren die
Lehrkräfte und stauchen die Schülerinnen und Schüler kräftig
zusammen. Dabei bleibt die Wertschätzung leider allzu häufig
auf der Strecke.
1.1 Sich selbst entwertende Deeskalationen
Mehrfache leichte Störungen
Zwei Schülerinnen einer 6. Klasse stören zum wiederholten Male in einer Stunde den Unterricht, indem sie immer wieder ihre Köpfe zusammenstecken und sich leise unterhalten. Der unterrichtende Fachlehrer hat sie bereits mehrfach deeskalativ angesprochen und leise ermahnt:
„Jessica, Fatima: Wir haben Stillarbeit. Keine Nebengespräche. Die anderen möchten konzentriert arbeiten. Bearbeitet bitte eure Arbeitsblätter.“
Nach diesen und ähnlichen desskalativen Ansprachen haben die beiden Schülerinnen stets ohne nennenswerten Widerstand ihre Störungen für einige Zeit eingestellt und ihre Arbeiten erledigt. Doch bereits wenige Minuten nach der jeweils letzten deeskalativen Ermahnung seitens des Lehrers führten sie ihre Unterhaltung fort. Der Lehrer interveniert daher bereits zum vierten Mal während dieser Stunde, indem er die beiden Freundinnen leise und freundlich anspricht:
„Fatima und Jessica: Ich habe euch doch schon mehrfach gesagt, dass ihr bitte ruhig sein sollt. Die anderen Schülerinnen und Schüler möchten nicht abgelenkt werden. Jetzt ist wirklich Schluss – okay?“ „Ja klar, wir sind ja ruhig. Aber Thomas und Svenja unterhalten sich auch die ganze Zeit.“ „Da gehe ich jetzt auch hin. Aber ihr seid bitte leise – klar?“ „Sind wir ja.“
Mit dieser vierten deeskalativen Intervention sendet der Lehrer die implizite Botschaft an die störenden Schülerinnen: „Ihr könnt immer weiter stören. Ich werde stets weiter deeskalativ vorgehen. Jede weitere Unterhaltung wird ebenso folgenlos bleiben wie die bisherigen vier Störungen auch: Euch wird nichts passieren.“
Der Lehrer handelt wie ein Schiedsrichter, der auch nach dem vierten leichten Foul eines Spielers auf das Zeigen der gelben Karte verzichtet. Dabei ist der Sachverhalt im Fußball eindeutig: Mehrfache leichte Fouls eines Spielers in einem Spiel summieren sich und stellen bei einem erneuten leichten Foul einen mittleren Regelverstoß dar, der mit einer gelben Karte geahndet wird.
Das Fehlverhalten konfrontieren
Und wenn wir dieses Vorgehen eines
Schiedsrichters auf die wiederholten Unterrichtsstörungen
während einer Stunde übertragen, dann kommen wir zu einem
ähnlichen Ergebnis wie in einem Fußballspiel: Die
wiederholten leichten Regelverstöße der beiden Schülerinnen
führen in der Summe dazu, dass eine erneute leise
Unterhaltung den Tatbestand eines mittelschweren
Regelverstoßes darstellt – die Freundinnen bekommen für ihre
vierte Störung die gelbe Karte in Form einer Konfrontation
gezeigt:
„Jessica und Fatima: Stopp! Das ist jetzt das vierte
Mal, dass ihr stört. Jetzt ist Schluss.“
(energisch-bestimmter Ton)
„Aber wir haben uns doch nur /“
„Nein! Keine Diskussion. Ihr habt mich verstanden. Schiebt
eure Stühle auseinander und setzt euch an den Rand des
Tisches.“
„Die anderen stören doch auch.“
„Jetzt geht es um euch. Rutscht auseinander.“
„Ja, ist ja gut.“
Durch seinen Satz „Das ist jetzt das vierte Mal, dass ihr stört“ macht der Lehrer deutlich, dass sein konfrontativer Auftritt eine Reaktion auf die wiederholten Störungen der Schülerinnen ist. Damit sendet er die wichtige implizite Botschaft: „Ich verändere meinen Auftritt, weil ihr die Ebene der leichten Regelverstöße verlassen habt – und nicht, weil ich euch persönlich angreifen möchte. Meine Konfrontation ist eurem Verhalten und nicht eurer Person geschuldet.“ Durch diese Klarstellung gelingt ihm die Kritik des Verhaltens der Schülerinnen, ohne sie als Personen anzugreifen.
Darüber hinaus enthält der Hinweis des Lehrers, dass seine Konfrontation eine Reaktion auf das wiederholte störende Verhalten der Schülerinnen ist, eine weitere implizite Botschaft: „Ich reagiere nicht etwa willkürlich, sondern berechenbar auf euer Verhalten. Ihr habt die Verantwortung für eure fortgesetzten Störungen, und damit tragt ihr auch die Verantwortung für meine angemessene Reaktion. Ich bin lediglich der Sachwalter des Regelwerks.“
Natürlich stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie viele leichte Regelverstöße vorfallen müssen, damit sie sich zu einem mittelschweren Regelverstoß addieren. Das kann von Lehrperson zu Lehrperson, von Schüler zu Schülerin, von Klasse zu Klasse oder auch von Stunde zu Stunde unterschiedlich sein: Manche Lehrerinnen und Lehrer intervenieren eher als andere konfrontativ. Bei manchen Schülerinnen oder Schülern empfiehlt sich eine frühzeitigere, bei anderen eine spätere Konfrontation (s. u.). In manchen Klassen kann man die Zügel lockerer halten, in anderen muss man sie früher anziehen. Und in manchen unruhigen Stunden muss man schneller konfrontativ reagieren als in entspannten Stunden.
Wir können nur zwei Dinge zu bedenken geben:
1. Durch den allzu frühzeitigen Übergang auf die Konfrontations-Ebene wird möglicherweise der „Spielfluss“ des Unterrichts zerstört. Denn Konfrontation heißt immer Druck in eine Situation eingeben. Und Druck erzeugt potenziell Gegendruck. Ein lebendiger Unterricht wiederum lässt sich nicht durch allzu großen Druck erzwingen. Im Gegenteil: Druck erzeugt Angst – und Angst ist einer der größten lernhemmenden Faktoren.
2. Auf der anderen Seite gilt: Durch eine fortgesetzte Deeskalation auch nach mehrfach leichten Störungen wird nicht nur den betreffenden Schülerinnen und Schülern ein Freibrief für weitere folgenlose Störungen ausgestellt, sondern die ganze Klasse erkennt, dass die jeweilige Lehrperson keine Mittel anwendet oder zur Verfügung hat, um auf Eskalationen adäquat zu reagieren.
Es gibt keine objektiven pädagogischen Kriterien dafür, nach welcher Anzahl von leichten Störungen eine Konfrontation sinnvoll ist. So, wie ein Schiedsrichter seine Entscheidung für das Zeigen einer gelben Karte immer auch vom Verlauf des jeweiligen Spiels abhängig macht, so sollten auch Lehrerinnen und Lehrer ihre Entscheidung von ihrem pädagogischen Fingerspitzengefühl abhängig machen.
Eine gelbe Karte liegt in der Luft
Im Fußball gibt es noch eine weitere Regel, die sich unseres Erachtens auf Unterrichtsstunden übertragen lässt: Nach mehreren leichten Fouls auch unterschiedlicher Spieler liegt, abhängig vom jeweiligen Spielverlauf, eine gelbe Karte in der Luft. Das bedeutet: Wenn in einer Phase eines Spiels innerhalb kürzerer Zeit von unterschiedlichen Spielern mehrere leichte Fouls begangen werden, muss jeder weitere leicht foulende Spieler damit rechnen, dass er für ein gleich schweres bzw. leichtes Vergehen die gelbe Karte bekommt. Alle Spieler, die einen Rasen betreten, haben ein Gefühl dafür, wann eine gelbe Karte in der Luft liegt, und können ihr Verhalten darauf einstellen.
Auf eine Unterrichtsstunde übertragen würde das bedeuten, dass es auch hier Phasen gibt, in denen nach mehreren leichten Störungen auch unterschiedlicher Schülerinnen und Schüler die Reaktion einer Lehrperson auf eine erneute leichte Störung einer weiteren Schülerin durchaus konfrontativ ausfallen kann:
„Kim: Stopp. Keine Zwischenrufe in die Klasse. Das ist jetzt der fünfte Zwischenruf innerhalb kurzer Zeit – nicht nur von dir Kim. Jetzt ist Ruhe. Das gilt für dich – und für alle anderen auch. Meldet euch, wenn ihr etwas sagen wollt.“
Entscheidend war auch bei dieser Intervention, dass der Lehrer den Bezugsrahmen seiner Konfrontation („die fünfte Störung innerhalb kurzer Zeit“) deutlich gemacht hat. Darüber hinaus hat er durch seinen Hinweis, dass das für alle anderen Schülerinnen und Schüler auch gilt, Druck von Kim genommen und auf die Klasse übertragen – er hat die Konfrontation dadurch ein Stück weit entpersonifiziert.
Bei dieser Art von Konfrontation nach leichten Regelverstößen unterschiedlicher Schülerinnen und Schüler ist es unseres Erachtens aber nicht nur wichtig, eine möglichst große Transparenz herzustellen, sondern auch darauf zu achten, dass diese Regel („Gelbe Karten können in der Luft liegen“) mit der Klasse im Vorfeld auch erarbeitet worden ist. Dadurch holt sich die Lehrperson die Legitimation ab, im Falle mehrfacher Störungen diese Regel auch durchzusetzen. Und wichtig ist auch, darauf zu achten, dass es nicht immer die gleichen Schülerinnen und Schülern sind, die – scheinbar aus der Luft gegriffen – zu Opfern der Konfrontation werden.
Wiederholt leichte Regelverstöße auch unterschiedlicher Schülerinnen und Schüler können sich im Verlauf einer Unterrichtsstunde zu einem mittleren Regelverstoß addieren und eine konfrontative Reaktion seitens der unterrichtenden Lehrerkräfte erfordern.